»Things seem so much different now
The scene has died away
I haven’t got a steady job
And I’ve got no place to stay«
»Inspiriert wurden die Texte von Living in Darkness von den veränderten Umständen, mit denen ich zu dieser Zeit konfrontiert war. Insbesondere war das die Auflösung der Punk-Szene. Es gab eine Bewegung weg von der ‚anything goes‘-Haltung der ersten Generation von Punks hin zum reglementierteren Aussehen und der reglementierten Musik der Hardcore-Richtung.«1
Und so ist Living in Darkness ein depressives, pessimistisches Werk, das seinem Namen mehr als gerecht wird. Doch in all dieser Düsternis gibt es einen schwachen, beinahe nostalgisch anmutenden Hoffnungsschimmer. Aus dem Dunkel der Gegenwart richten AGENT ORANGE den Blick in die Vergangenheit. Den rabenschwarzen eigenen Stücken gesellen sie drei Coverversionen bei, allesamt Instrumentalstücke aus den frühen sechziger Jahren. Es sind dies DICK DALEs Misirlou von 1962, Pipeline, ein Stück der CHANTAYs aus dem Jahr 1963 und schließlich, als ältestes, Mr. Moto von den BELAIRS von 1961:
Und so sind wir in einem Zeitsprung — zumindest vorläufig — in den frühen sechziger Jahren gelandet. Mr. Moto von den BELAIRS war das allererste Surfstück, das überhaupt auf Platte erschien, und so soll hier zunächst einmal, quasi prototypisch, die Geschichte der BELAIRS erzählt werden.
Davon einmal abgesehen, daß sie die erste Surfmusiksingle überhaupt herausbrachten, unterschied sich die Geschichte der BELAIRS nicht wesentlich von der Geschichte anderer Surfbands. Die BELAIRS waren einfach kalifornische Teenager, die eine Band gründeten und zu Tanzvergnügungen aufspielten. Sie waren weder besonders rebellisch noch sonst irgendwie auffällig, außer daß sie eben in einer Band spielten.
Den Kern der BELAIRS bildeten die beiden Gitarristen PAUL JOHNSON und EDDIE BERTRAND. Beide hatten Ende der fünfziger Jahre begonnen, sich für Musik zu interessieren, instrumentale Rockmusik, um genau zu sein. Es ist ein weitverbreiteter Irrtum zu glauben, alle instrumentale Rockmusik dieser Zeit sei Surfmusik. Instrumentaler Rock’n’Roll ist so alt wie Rock’n’Roll selbst.
Und so hörten PAUL und EDDY die Musik von JOHNNY AND THE HURRICANES, den FIREBALLS und natürlich von DUANE EDDY. Wer sich unter den Namen nichts vorstellen kann, hier sind die FIREBALLS:
Inspiriert von derartigem Material übten sie fleißig und begannen als Gitarrenduo aufzutreten — was Paul Johnson übrigens heute wieder macht. Irgendwann beschlossen die beiden damals, ihr Duo zu einer Band zu erweitern und heuerten zwei weitere Musiker aus ihrer Schule an, den Drummer der Schulbigband, RICHARD DELVY und den Klarinettisten CHAZ STUART. Und es stellte sich als Heidenarbeit heraus, dem Jazzdrummer einen soliden Rockbeat einzubleuen und aus dem Klarinettisten einen groovy Saxophonisten zu machen. Ergänzt wurde das Quartett dann schließlich durch den Pianisten JIM ROBERTS.
Als RICHARD DELVY und CHAZ STUART eines Nachmittags im Sommer 1961 über den Sunset Boulevard bummeln, stechen ihnen die United Recording Studios ins Auge. Sie betreten das Gebäude und erkundigen sich wegen Aufnahmen. Und nein, es geschieht kein Wunder, niemand bittet sie zu Probeaufnahmen oder ähnlichem, vielmehr erhalten sie die Auskunft, daß sie als nicht gewerkschaftlich organisierte Musiker hier sowieso nicht aufgenommen würden. Aber die Idee ist da, und ein paar Straßen weiter finden sie einen kleinen Laden, Liberty Recording Studios, wo sie sich nach den Modalitäten für eine Aufnahme erkundigen. Und noch auf der Heimfahrt halten sie an einer Telefonzelle an und buchen das Studio für eine Stunde am nächsten Samstag.
Der Rest der Woche heißt für die Band üben, üben, üben. Und als sie dann am Samstag das Studio um 32 Dollar ärmer und mit ihren Bändern unter dem Arm verließen, sind sie überglücklich. Wer wäre das nicht, wenn er mit gerade einmal vierzehn Jahren in einer Stunde fünf Stücke eingespielt hätte, darunter das folgende:
Aufnahmen allein machen aber noch keine Platte, und so klappern sie mit ihren Bändern alle möglichen Plattenlabels ab, um ihre Musik an den Mann zu bringen. Und den Mann finden sie dann, nach einer Reihe von Absagen, beim kleinen Arvee-Label in Gestalt von SONNY BONO, der die Bänder neu abmischt und Mr. Moto als Single herausbringt. Doch der Verkauf ist schleppend, da Arvee keine Werbung macht; erst als die BELAIRS die Promotion selbst in die Hand nehmen kommt Bewegung in die Verkäufe. Beim Radiosender KRLA wurden jeden Tag die Top-Ten einer anderen Highschool in der Gegend gespielt, und da die BELAIRS inzwischen recht häufig auf Schulfesten und ähnlichem auftraten, landete Mr. Moto gelegentlich auf einer solchen Liste. PAUL JOHNSON ging noch einen Schritt weiter und schickte dem Sender eine gefälschte Liste seiner Schule zu, bei der er Mr. Moto auf Platz 1 gesetzt hatte. Aufgrund dessen übernahm der Sender den Titel schließlich auf seine Playlist, größere Sender zogen nach, worauf Mr. Moto endlich in den Top Twenty landete.
Daran zerbrach dann die Band. Der Drummer RICHARD DELVY verließ die BELAIRS, weil er meinte, daß ihm als Manager ein größerer Anteil an den Verkaufserlösen der Platte zustünde als dem Rest. Er gründete mit anderen Musikern die CHALLENGERS. Wenig später ging EDDIE BERTRAND zusammen mit dem neuen Drummer DICK DODD, weil er sich mit PAUL JOHNSON über den Gitarren-Sound zerstritten hatte. EDDIE wollte eher den neuen Sound, wie ihn DICK DALE entwickelt hatte, übernehmen, während PAUL am traditionellen Klang der BELAIRs festhielt. EDDIEs neue Band, die SHOWMEN, sollten dann in der Folge zu einer der erfolgreichsten Livebands der Surfmusikszene überhaupt werden. Die BELAIRS hingegen konnten mit neuem Lineup nicht mehr an den alten Erfolg anknüpfen. Das „nasse“ Echo DICK DALEs war inzwischen Pflicht, nicht mehr Kür, und so erinnert wenig am Sound der SHOWMEN an ihre Herkunft von den BELAIRS:
Damit will ich meine kurze Vorstellung einer „typischen Surfband“ abschließen. Surfmusik ist Teenager-Musik, sie ist von Teenagern für Teenager gemacht. Das jugendliche Alter der BELAIRS ist dabei keineswegs eine Seltenheit. Die meisten Surfmusiker waren noch in der Highschool oder waren eben auf’s College gekommen. Recordverdächtig in dieser Hinsicht sind die NEW DIMENSIONS, die gerade einmal 13 Jahre alt waren, als sie ihre erste Platte einspielten. Eine Ausnahme ist also eher so jemand wie DICK DALE, der sich schon mit wenig Erfolg als Countrymusiker betätigt hatte, bevor er zum King of the Surfguitar wurde; ganz zu schweigen von den ganzen Studiomusikern, die auf das Surfbrett aufsprangen, als sich damit Geld verdienen ließ. Allerdings hat die Jugendlichkeit der frühen Surfmusik nichts Programmatisches — im Gegensatz zum Rock’n’Roll der 50er Jahre. Darauf wird später noch einzugehen sein.
Surfmusik war vor allem Livemusik; die BELAIRS etwa veröffentlichten zwischen 1961 und ’63 gerade einmal vier Singles, EDDIE AND THE SHOWMEN fünf Singles. Oder, um ein ganz extremes Beispiel zu nennen: Von KATHY MARSHALL, der Queen of the Surf Guitar ist überhaupt nichts überliefert. Die Platten hatten eher den Zweck, die Liveauftritte zu promoten, nicht umgekehrt. Wenn die Platten in die Charts kamen, dann höchstens in die lokalen kalifornischen, nur sehr selten in die nationalen. Die einzigen wirklich erfolgreichen Surftitel waren Pipeline von den CHANTAYS und Wipe Out! von den SURFARIS. DICK DALE etwa erreichte nie mehr als Platz 60 in den Billboard Charts.
Doch STEVE OTFINOSKI schreibt in seinem Standardwerk über instrumentale Rockmusik zurecht:
»Aber schließlich ging es bei Surfmusik, anders als bei so vielen künstlich produzierten Rockmusik-Bewegungen der 50er und 60er nicht wirklich um Hitplatten. Es ging um Kids, die eine Tanz namens The Stomp in abgewrackten Strandclubs einen Steinwurf vom Ozean entfernt aufführten. Es ging um wilde Männer wie Dick Dale, die ihr Plektrum zu Konfetti zerschredderten, wenn sie die Saiten ihrer Stratocaster zum Glühen brachten. [ …] Die Ungezähmtheit der Surfmusik und ihr Geist der Freiheit erlaubte es den Ausführenden, ihrer Musik jeden Stil zu inkorporieren, von twangy guitars zu Country und Western, von Rhythm & Blues zur Musik des Nahen Ostens. Instrumentale Surfmusik war, als Bewegung von unten mit eklektischem Repertoire und oft genug zügellosem Bühnenverhalten Vorläufer der Garagenbands, von Punk und Grunge.«2
Und trotz der ausbleibenden Charterfolge verbreitete sich der Surfmusikvirus über die ganze Welt. Die sowieso nicht besonders enge Verbindung von Wellenreiten und Surfmusik löste sich auf, als überall auf der Welt junge Menschen zur Gitarre griffen, ob nun ein Ozean in der Nähe war oder nicht. In der DDR etwa nahm das Franke Echo Quintet, benannt nach dem realsozialistischen Äquivalent zum Fender Reverb, seine Melodie für Barbara auf:
An dieser Stelle ist es vielleicht ganz angebracht, eine kleine Vorschau auf den weiteren Verlauf des Vortrags zu geben. Zunächst werde ich einiges über die Vorgeschichte der Surfmusik erzählen. Dann werden wir uns der eigentlichen Frage des Vortrags »Was ist Surfmusik?« zuwenden. Dazu wird es einen kurzen erkenntnistheoretischen Exkurs geben, der begründet, warum der Ausdruck „Surfmusik“ nicht eine Klassifikation, sondern eine Idee bezeichnet und was den Inhalt dieser Idee ausmacht. Und im Schlußteil wird es um das in den 80er Jahren beginnende und sich bis heute fortsetzende Surfmusikrevival gehen.
Doch nun zur Vorgeschichte. Ohne Vorläufer hätte nicht Ende 1961 auf einmal die Surfmusik explodieren können. Ironischerweise sind zwei der typischen Elemente der Surfmusik vor ihrer Entstehung gang und gäbe, nämlich zum einen die Tatsache, daß sie instrumental ist, und zum anderen das Echo auf der Leadgitarre.
Beginnen wir mit der instrumentalen Rockmusik: So unwahrscheinlich uns das heute erscheinen mag: Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Rockmusik bis zu den den BEATLES war rein instrumental, ja selbst deren Repertoire enthielt eine ganze Reihe von Instrumentalstücken, als sie noch in Hamburg auftraten.3
Die erste instrumentale Rocknummer, die den Platz 1 der Top 40 erreichte, war 1957 Tequila von den CHAMPS. Und bis zur sogenannten „britischen Invasion“, das heißt, der Dominanz der britischen Beat- und Rythm’n’Blues Bands Mitte der 60er Jahre, riß die Kette der instrumentalen Rockhits eigentlich nie ab. Um nur einige Titel aus diesem goldenen Zeitalter des Rockinstrumentals zu nennen: BILL JUSTIS’ Raunchy (1957), DUANE EDDYs Rebel-’Rouser (1957), LINK WRAYs Rumble (1958), Apache von den SHADOWS (1960), Telstar von den TORNADOS (1962). Angesichts dessen ist das Faktum, daß Surfmusik reine Instrumentalmusik war, nicht besonders auffällig.
Wenn also heute die Termini „Surfmusik“ und „instrumentale Rockmusik“ fast synonym gebraucht werden, dann geht das gewaltig an der Sache vorbei. Wenn auf Surfkompilations Hawaii Five-0 von den VENTURES auftaucht, kann man nur den Kopf schütteln.4 Hawaii Five-0 ist sicherlich ein großartiges Stück, aber Surfmusik ist es auch nach den allerlaxesten Kriterien nicht; und die VENTURES sind, das nur nebenbei bemerkt, auch keine Surfband.
Derartige Irrtümer sind andererseits natürlich nicht zufällig. Surfmusik hat zwangsläufig einige Gemeinsamkeiten mit anderen Formen instrumentaler Rockmusik. Es gibt gewisse musikalische Elemente, die immer wieder auftauchen, weshalb es leicht zu Verwechslungen kommen kann. Praktisch alles, was später Surfmusik auszeichnen sollte, ist bereits in den Jahren davor in dieser oder jener Form entwickelt worden. Doch in der Surfmusik ändern diese Elemente, wie später noch zu zeigen sein wird, ihren ursprünglichen Sinn. Jetzt geht es zunächst nur darum, diese musikalischen Elemente zu isolieren.
Die meisten dieser Elemente sind auf Marketingstrategien zurückzuführen, und zwar Marketingstrategien, die speziell auf Instrumentalmusik zugeschnitten sind. Denn die Vermarktung von Instrumentalmusik stellt die Kulturindustrie vor ganz andere Probleme als die Vermarktung von Songs.
Eines der größten Probleme angesichts eines musikalisch mehr oder minder illiteraten Publikums ist das Problem der Bedeutung. Instrumentalmusik ohne Text bedeutet nichts, sie ist, nach einer berühmten Definition, „tönend bewegte Form“, die als solche keineswegs noch eines außermusikalischen Inhalts bedarf. Trotzdem ist das Bedürfnis offenkundig unausrottbar, danach zu fragen, was denn bitteschön eine bestimmte Musik darstelle. Schon Mendelsohn mußte sich damit herumärgern, und gab auf die Frage, was er sich bei einem bestimmten Stück vorgestellt habe, die gereizte Antwort: eben dieses Stück. Da der musikalische Analphabet darauf besteht, sich beim Musikhören etwas vorstellen zu dürfen, sind reiner Instrumentalmusik Grenzen gesetzt, was ihre kulturindustrielle Verwertung betrifft.
Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß instrumentale Rockmusik nach einigen respektablen Anfangserfolgen praktisch ausgestorben ist. Tatsächlich muß man sich umgekehrt fragen, warum es überhaupt eine Zeit gab, in der das Rockinstrumental durchaus Charterfolge aufweisen konnte. Das Wunder ist schnell erklärt: Die Rockmusik war ein sehr junges musikalisches Genre, dessen musikalische Mittel noch kaum entwickelt waren. Und so konnten neue Soundelemente durchaus einzelne Stücke in die Charts tragen, bis sich der Effekt des Neuen und Niegehörten abgenutzt hatte.
Doch zurück zum Ausgangspunkt, zu den technischen Innovationen der fünfziger Jahre. Der vokale Rock’n’Roll wurde, kaum war er auf die Bühne getreten, von den großen Plattenfirmen kastriert, indem den Sängern standardisierte Songs auf den Leib geschrieben wurden, in denen man die immergleichen Formeln, die einmal zu einem Hit geführt hatten, unendlich variierte. Daß die meisten großen Rock’n’Roller wieder zum Country oder zum Gospel zurückkehrten, wo sie herkamen, zeigt recht erschreckend, wie das musikalische Potential des vokalen Rock’n’Rolls in der Umarmungsstrategie der Konzerne erstickt wurde.
Es ist deshalb kein Wunder, daß der Fortschritt im Rock’n’Roll vor allem im Instrumentalbereich stattfand. Mit innovativen Instrumentalaufnahmen konnte es auch kleinen Plattenfirmen gelingen, sich gegen die Übermacht der großen Konzerne, die die bekannten Gesangsstars unter Vertrag hatten, durchzusetzen. LINK WRAYs Rumble ist in diesem Zusammenhang sicherlich das wichtigste Beispiel. Für Surfmusik jedoch noch entscheidender ist die Zusammenarbeit des Gitarristen DUANE EDDY mit dem Produzenten LEE HAZELWOOD. Diese Kollaboration hatte mit Country und Western-Aufnahmen begonnen, deren Erfolg allerdings ziemlich bescheiden war. Das lag durchaus an den Sangeskünsten des Gitarristen, der später selber meinte, daß einer seiner wichtigsten Beiträge zum Rock’n’Roll gewesen sei, nicht gesungen zu haben. Angesichts dieses Handicaps konzipierte HAZELWOOD ein im wesentlichen auf den Baßsaiten der Gitarre gespieltes Instrumentalstück namens Moovin’ and Groovin’, das es immerhin auf Platz 72 der Billboard-Charts schaffte.
Doch das war HAZELWOOD nicht gut genug. Und so mußten eines Nachmittags die Eisenwarenhändler von Phoenix kopfschüttelnd einen Verrückten beobachten, der in ihre Wassertanks hineinsang, bis er ein fünf Meter langes und zwei Meter hohes Monstrum gefunden hatte, das seinen Klangvorstellungen entsprach. In diesen Tank wurden am einen Ende ein Lautsprecher, am anderen ein Mikrophon installiert. Schließlich wurde der Gitarrenklang DUANE EDDYs hindurchgejagt, worauf das Ergebnis folgendermaßen klang:
Wenn man später Surfgitarristen nach ihren Einflüssen fragt, dann taucht mit unfehlbarer Sicherheit Rebel-’Rouser von DUANE EDDY auf. Es ist dieser im Studio, oder besser: im Hof vor dem Studio produzierte Sound, den die Surfgitarristen der ersten Stunde suchten.
Da man aber schlecht riesige Wassertanks auf die Bühne schleppen konnte, war in den Anfängen der Surfmusik ein derartiger Sound unerreichbar. Die LIVELY ONES spielten deshalb mit Vorliebe im Pavalon Ballroom am Huntington Beach Pier, weil der Raum ein natürliches Echo hatte, wodurch der Livesound mehr ihren Plattenaufnahmen ähnelte.5 Daß sich die Surfmusiker nicht in irgendwelche Höhlen und Grotten verkrochen, ist schließlich das unsterbliche Verdienst von LEO FENDER. Dessen Zusammenarbeit mit DICK DALE brachte zwei technische Innovationen hervor, ohne die der Siegeszug der Surfmusik undenkbar gewesen wäre: Den Fender-Reverb und den Showman-Verstärker.
Bevor DICK DALE zum King of the Surf Guitar gekrönt wurde, war er ein unbedeutender Country-Musiker, der mit wenig Erfolg seinem großen Vorbild HANK WILLIAMS nacheiferte. Das lag unter anderem daran, daß DICK DALE keine besondere Stimme hatte, weshalb er den befreundeten Gitarrenproduzenten LEO FENDER fragte, ob er ihm nicht ein Gerät bauen könne, mit dem es möglich sei, wie bei einer Hammondorgel, ein Vibrato auf die Stimme zu legen. Die Techniker in FENDERs Gitarrenfabrik bauten das entsprechende Teil aus einer Hammondorgel aus und so um, daß DALE ein Mikrophon anschließen konnte, worauf sich schlagartig der Klang seiner Stimme um Klassen verbesserten. Singen kann er allerdings bis heute nicht.
Doch das wäre wahrscheinlich alles vergessen, hätte DICK nicht die Idee gehabt, seine Gitarre in das neue Gerät einzustöpseln:
Den Kontakt zu FENDER hatte DALE hergestellt, weil er ständig Probleme mit seinem Gitarrenverstärker hatte:
»Während ich im Rendevous [Ballroom] spielte, traf ich einen Mann, der Gitarren und Verstärker entwarf. Mein Sound wurde damals recht heftig und um einiges lauter, weshalb mich meine Verstärker im Stich ließen. Ich kam ins Gespräch mit Leo und er schien mich vom Fleck weg zu mögen. Er mochte meine Einstellung, was ich mir wünschte und wie ich klingen wollte. Etwas später sagte er mir, es würde ihn freuen, wenn ich einige der Fender-Verstärker ausprobieren würde, die er gebaut hatte. Leo begann, mir verschiedene Verstärker zu bringen und es endete damit, daß ich rund vierzig davon durchblies, bis Leo mit einem auftauchte, den er den Showman nannte und den ich nicht durchblasen konnte. [ …] Ich erinnere mich an einen Ausspruch von Leo: ‚Wenn es gut genug ist für Dick Dale, dann ist es gut genug für die Öffentlichkeit. Wenn es Dick Dale aushält, kann man es verkaufen.‘«6
Es läßt sich heute schwer nachvollziehen, wie laut die Surfbands für damalige Ohren geklungen haben mußten. Ich kann nur versuchen, einen vagen Eindruck zu vermitteln. Das folgende ist eine Liveaufnahme der BOBBY FULLER FOUR, die wohl irgendwann um 1964 entstanden sein muß:
Ich hoffe, mit dem, was ich bisher ausgeführt und vorgespielt habe, einen gewissen Eindruck von Surfmusik und auch des historischen Kontextes, in dem Surfmusik steht, vermittelt zu haben. Auf dieser Grundlage müssen wir uns nun die eigentliche Frage dieses Vortrags stellen: »Was ist Surfmusik?«
Bevor ich allerdings versuche, diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst die Frage richtig verstehen. Auf den ersten Blick scheint die Frage „Was ist Surfmusik?“ nach einer Definition zu fragen. Die Antwort wäre dann in folgender Form zu erwarten: „Surfmusik ist eine Spielart instrumentaler Rockmusik, die folgende Besonderheiten aufweist:“. Und dann würde man eine Reihe von Kriterien aufzählen: Reverb, d.h. das bereits erwähnte Echo auf der Lead- oder Rhythmusgitarre, dann den häufigen Einsatz von Glissandi und schließlich das Double Picking, das heißt, daß Töne nicht ausgehalten, sondern in schnellem Staccato mehrfach angeschlagen werden. Und wenn wir diese Kriterien aufgezählt hätten, dann wäre das die Definition von Surfmusik. Doch genau dies wäre die falsche Antwort; und es wäre deshalb die falsche Antwort, weil schon die Frage nicht richtig verstanden wurde.
Das klingt nach starkem Tobak. Und tatsächlich muß ich etwas weiter ausholen, um begreiflich zu machen, daß eine solche Definition nicht die Antwort auf die Frage „Was ist Surfmusik?“ sein kann. Beginnen wir zunächst mit der Antwort und untersuchen die Struktur der Definition „Surfmusik ist eine Spielart instrumentaler Rockmusik, die sich durch exzessiven Gebrauch von Reverb, Glissandi und Double-Picking auszeichnet“. Dies ist, von ihrer Form her, eine klassische Definition, die zunächst einen Oberbegriff nimmt — in unserem Fall „instrumentale Rockmusik“ — und diesen Oberbegriff dann durch eine oder mehrere nähere Bestimmungen eingrenzt — Reverb, Glissandi und Double-Picking. Formal gesehen ist das ein völlig standardisiertes Verfahren. Nehmen wir des Philosophen liebstes Beispiel, den Stuhl, dann ist der Stuhl ein ungepolstertes Sitzmöbel mit Rückenlehne. Der Oberbegriff ist „Sitzmöbel“, die Differenz zu anderen Sitzmöbeln wird durch die bestimmenden Zusätze „ungepolstert“ und „mit Rückenlehne“ ausgedrückt.
Diese Form der Begriffsbildung wird „identifizierendes Denken“ genannt. Wenn die Definition gut ist, dann erlaubt sie uns, eine Sache eindeutig zu identifizieren: „Ein Fliegenpilz ist ein Pilz mit einer roten Kappe und weißen Punkten“. Und für das Überleben sind derartige Identifikation von außerordentlicher Wichtigkeit: Die Identifikation des Fliegenpilzes verhindert, daß er bei uns im Kochtopf landet.
Wenn wir diese Art von Begriffsbildung noch genauer anschauen, stellen wir fest, daß wir es beim Oberbegriff mit einer Abstraktion zu tun haben. „Den Pilz“ gibt es nicht, es gibt nur bestimmte Pilze: Pfifferlinge, Champignons oder eben auch Fliegenpilze. „Der Pilz“ ist eine reines Gedankenkonstrukt, das außerhalb unserer Köpfe keine Realität hat. Er ist durch eine Abstraktionsleistung gewonnen, die die gemeinsamen Merkmale verschiedender Pilze herausstreicht, von den Differenzen aber absieht. Das heißt, der Oberbegriff, das Abstraktum, ist den einzelnen Exemplaren nachgeordnet, er ist aus ihnen abgeleitet.
Bei der Surfmusik hingegen verhält es sich völlig anders: Surfmusik ist keine Abstraktion, die einfach das Gemeinsame aller Surfstücke umfaßt, dabei aber von ihren Spezifika absieht. Denn Surfmusik ist kein nachträgliches Gedankenkonstrukt, sondern ein ästhetisches und historisches Reales, philosophisch ausgedrückt: Surfmusik ist kein Begriff, sondern eine Idee. Und das Verhältnis der Idee zu ihrer Ausprägung ist ein völlig anderes als das des Begriffs zu den von ihm zusammengefaßten Einzelnen. Es ist nicht das Verhältnis einer Abstraktion zu vielen von ihr umfaßten Konkreten, sondern es ist das des Ausgedrückten zu den Ausdrückenden. Oder in unserem Fall: Jedes Surfstück versucht, die Idee von Surfmusik auszudrücken, das heißt, hier geht die Idee, die nun eben nicht mehr ein einfacher Oberbegriff ist, den Exemplaren, also den einzelnen, faktischen Surfstücken voraus. Sie ist nicht aus ihnen abgeleitet, sondern ihre Voraussetzung.
Damit verändert sich in der Tat die ganze Fragestellung, nämlich von einer banausischen zu einer ästhetischen. Würden wir Surfmusik als Begriff auffassen und die Frage „Was ist Surfmusik?“ als Frage nach einer Definition, dann würden wir eigentlich fragen: „Wie erkenne ich Surfmusik?“ Dies entspräche Kunstführern vom Schlage „Wie erkenne ich romanische Kunst?“ Selbst wenn wir mit Hilfe eines solchen Führers dann eine romanische von einer gotischen Kirche unterscheiden können, so hätten wir doch überhaupt nichts verstanden. Tatsächlich aber geht es eben nicht um Identifikation, sondern darum, zu verstehen. Um die Frage richtig zu stellen, müssen wir die Betonung verschieben. Diese liegt nicht auf „Surfmusik“, sondern auf dem „ist“. Richtig betont, haben wir es mit einem erstaunten Fragen angesichts ästhetischer Schönheit zu tun: „Was ist Surfmusik?“, das heißt, was ist es, das uns an einem guten Surfstück berührt, was sagt es uns, obwohl sie doch ohne Worte zu uns spricht, kurz: Was ist die Idee, die es ausdrückt? Und diese Frage ist ungleich komplexer als die Frage nach einer einfachen Definition. Es geht nicht darum, eine Liste gemeinsame Merkmale einzusammeln, sondern die Stücke daraufhin zu befragen, welche ästhetische Idee sie ausdrücken.
Wenn wir nun die Frage richtig, nämlich nicht als Frage nach einer Definition von Surfmusik, sondern als Frage nach der Idee von Surfmusik stellen, müssen wir die spezifischen Merkmale von Surfmusik anders auffassen, als dies ursprünglich geschah. In einer Definition sind die charakteristischen Eigenschaften einfache empirische Merkmale, für die es nur ein Kriterium gibt: sie sind vorhanden oder sie fehlen. So betrachtet können sie einfach auf einer Checkliste abgehakt werden, und damit hat es sich. In unserem konkreten Fall hieße dies, daß man ein instrumentales Rockstück daraufhin abklopft, ob auf dem Sound der Leadgitarre Echo liegt und ob der Gitarrist Double-Picking oder Glissando verwendet. Dies ist nicht sehr ergiebig: Es gibt Stücke, die recht viele „typische“ Merkmale aufweisen und sich doch irgendwie nicht richtig als Surfstücke qualifizieren. Und es gibt Stücke, die keines oder kaum eines dieser Merkmale aufweisen und die doch zum Kanon klassischer Surfinstrumentals gehören.
Wenn wir aber Surfmusik als Idee betrachten, dann entkommen wir dieser Schwierigkeit. Aus diesem veränderten Blickwinkel betrachtet sind charakteristische musikalische Merkmale von Surfmusik Elemente, in deren spezifischer Konstellation die Idee von Surfmusik aufscheint. Dabei ist die Idee selbst unabhängig von diesen Elementen; diese stellen nur gerne verwendete Möglichkeiten dar, die Idee auszudrücken, die aber auch ganz anders ausgedrückt werden kann. Deshalb kann ein Stück die Idee von Surfmusik ausdrücken, ohne ein einziges charakteristisches Element aufzuweisen; und umgekehrt kann ein Stück die Idee völlig verfehlen, obwohl die Elemente zweifellos vorhanden sind. Genau dies macht die Differenz von Begriff und Idee aus: Ein Stuhl ohne Rückenlehne ist eben kein Stuhl mehr, sondern ein Hocker. Ein Musikstück ohne Reverb, Double-Pickung und Glissando kann jedoch ohne weiteres die Idee von Surf ausdrücken.
Wenn wir also die Idee von Surfmusik verstehen wollen, genügt, im Gegensatz zum Begriff, nicht mehr eine einfache mechanische Prüfung, ob die Elemente vorhanden oder abwesend sind. An die Stelle eines einfachen Checks tritt vielmehr eine weitaus schwierigere Aufgabe, die Aufgabe nämlich, den Gehalt dieser Elemente aufzuzeigen; und aus der Darstellung des Gehaltes sowohl der Elemente im Einzelnen wie auch in ihrem Zusammenspiel, erschließt sich dann die Idee.
Wobei hier sofort vor einem Fehlschluß gewarnt werden muß: Gehalt meint nicht, daß die musikalischen Elemente etwas „abbilden“. Es wäre völlig falsch, den Echo-getränkten Klang der Surfmusik dahingehend zu interpretieren, daß dieser „naße“ Sound das Wasser oder die Wellen abbilden soll — obwohl gerade diese irrige Meinung sehr oft und gern verbreitet wird. Wir werden gleich sehen, welchen Gehalt gerade der Echoklang besitzt.
Denn musikalische Elemente sind nicht einfach Zeichen, die etwas nichtmusikalisches abbilden. Ihren Gehalt schöpfen sie vielmehr aus ihrer Geschichte, aus der Verwendung in bestimmten historischen künstlerischen Kontexten. Dies führt dazu, daß dieser Gehalt den Künstlern selbst oft gar nicht direkt bewußt ist. Diese verfügen in der Regel einfach über ein mehr oder minder großes Arsenal musikalischer Mittel; und mit diesem Material schaffen sie neue Kunstwerke, indem sie es gemäß ihren künstlerischen Vorstellungen verarbeiten und neue Kunstwerke schaffen.
In diese Kunstwerke fließt dann, ob dies vom Künstler nun beabsichtigt ist oder nicht, die Geschichte dieses Materials mit ein; wie immer er es auch dreht und wendet, dadurch daß das Material geschichtlich überliefert ist, ist ein Kunstwerk nie nur ein individuelles, sondern immer in gesellschaftliches Produkt. Viele aufstrebende Surfmusiker hat sicherlich nur der Sound von Dick Dale beeindruckt, den sie dann kopieren wollten. Doch indem sie den Sound übernahmen, übernahmen sie auch den historisch-gesellschaftlichen Gehalt dieses Sounds. Und auch der Sound von Dick Dale entstand nicht aus dem Nichts, sondern Dick Dale selbst wurde wieder von anderen Künstlern beeinflußt, von denen er musikalische Elemente übernahm und so weiter und so fort. Wenn wir also den Gehalt musikalischer Elemente aufschlüsseln wollen, dann wird es notwendig sein, ihre Geschichte zurückzuverfolgen.
Dies ist ein Schritt, ein wichtiger Schritt zwar, doch alleine reicht er nicht aus. Der Gehalt eines musikalischen Elements erschöpft sich nicht ausschließlich in seiner Tradition. Indem es von einem Musiker aufgegriffen und mit anderen Elementen kombiniert wird, verändert sich der Gehalt. Es genügt also nicht, die Geschichte musikalischer Elemente zu rekonstruieren. Zu dieser vertikalen Linie gesellt sich die horizontale, die Kombination verschiedener historisch überlieferter Elemente zu einem neuen Ganzen, das selbst den Gehalt der Elemente wieder verändert.
Das Neue tritt zunächst einmal vielleicht nur isoliert auf: Ein Künstler schafft, gemäß seiner Vorstellungen mit dem überlieferten Material etwas Neues. Wenn nun diese Kombination von Elementen von anderen Musikern aufgegriffen wird, weil sie der Meinung sind, damit genau das ausdrücken zu können, was sie ausdrücken wollen, dann erweist es sich, daß das, was der einzelne Künstler zunächst geschaffen hat, weit über ihn selbst hinausreicht. Er hat dann etwas zum Ausdruck verholfen, was größer ist als er selbst, nämlich einer Idee. Und eine solche Idee ist die Surfmusik.
Wo solche künstlerischen Ideen auftreten, wird es sich in der Regel oft erweisen, daß nicht ein einzelner Künstler dafür verantwortlich ist, sondern daß unabhängig voneinander unterschiedliche Künstler an ähnlichen Problemstellungen und ähnlichen Lösungen gearbeitet haben. Die Idee liegt sozusagen in der Luft und wartet darauf, in unterschiedlichen Kunstwerken unterschiedlicher Künstler Gestalt anzunehmen.
Der Grund hierfür ist, daß die Idee selbst ein gesellschaftliches Produkt ist; sie schlummert im Unter- oder Vorbewußten der Gesellschaft oder zumindest einer gesellschaftlichen Gruppe und sie braucht die Kunstwerke, um aus einem vagen gesellschaftlichen Gefühl zu einer historischen Realität zu werden. Doch dies zunächst einmal nur als Vorgriff auf das kommende. Wenden wir uns zunächst einmal den charakteristischen musikalischen Elementen der Surfmusik im einzelnen zu.
Betrachten wir zunächst das auffälligste Soundelement in der Surfmusik, den Reverb oder das Echo. Im Echo, wie es in der Surfmusik erklingt, entfaltet sich ein sehr amerikanischer Topos, der der Frontier. Das scheint jetzt eine äußerst verwegene Behauptung zu sein, läßt sich aber, in Kontrast zu einer europäischen Auffassung des Echos, relativ simpel nachvollziehen.
Das Echo ist eines der ältesten Stilelemente abendländischer Musik und war ein bis in das 18. Jahrhundert sehr gebräuchliches musikalisches Mittel, das dann aber in der bürgerlichen Musik des ausgehenden 18. und dann vor allem 19. Jahrhunderts verpönt wurde. Der Grund dafür wird uns gleich einleuchten.
Verwendet wurde es vor allem im 17. Jahrhundert, und zwar dazu, um den musikalischen Affekt der Klage darzustellen. Natürlich gab es keine technischen Möglichkeiten, um Echoklänge zu erzeugen, vielmehr wurden diese auskomponiert. In Regel handelte es sich dabei um eine vokale Klage, die dann leise instrumental wiederholt wurde, um damit einen Echoeffekt zu erzeugen. Das Echo markiert somit die Einsamkeit und Verlassenheit des trauernden Individuums, dem, aus der Gesellschaft ausgeschlossen, nur noch die Natur antwortet.
Die Differenz zur Surfmusik ist natürlich offensichtlich. Daß die Surfmusik Klage sein soll, wird hoffentlich niemand richtig einleuchten wollen. Hier wandert nun das Echo, dank des Fender Reverb, direkt in den Klang ein. Im auskomponierten Echo des 17. Jahrhunderts ist der Ausgangspunkt noch die menschliche Stimme, deren Klage erst in der Wiederholung sich in Naturklang verwandelt. Durch die kurze Wiederholzeit des Fender Reverb hingegen mischen sich ursprünglicher und wiederholter Klang so ineinander, daß der Klang selbst eine unmittelbar naturhafte Dimension erlangt.
Trotz dieser Differenz im Ausdruck treffen sich das 17. Jahrhundert und die Surfmusik dort, wo Naturhaftigkeit und Einsamkeit evoziert werden. Was der Surfmusik aber fehlt, ist das Moment der Klage. Die Einsamkeit, die in der europäischen Auffassung des Echos sichtbar wird, ist die des aus der Gemeinschaft verstoßenen Individuums. Geschichtsphilosophisch läßt sich eine solche europäische Auffassung des Echos deuten als Zersetzung vorbürgerlicher Strukturen, die noch nicht zu einer neuen Integration des Individuums in die bürgerliche Gesellschaft geführt hat. Daß das Echo nach der französischen Revolution tabu wird, ist ideologisch: Das Echo soll nicht daran erinnern, daß die Integration von Individuum und Gesellschaft nicht wirklich gelang.
Die amerikanische Einsamkeit ist eine andere. Der Einzelne, der sich hier der naturhaften Weite ausliefert, ist nicht der von der Gesellschaft Verstoßene, sondern der Pionier, der in neue, unbekannte Welten aufbricht. Seine Einsamkeit ist eine selbst gewählte, die in ihrer Einsamkeit zugleich eine gesellschaftliche Funktion hat: Er ist der Erste, dem viele nachfolgen werden, nicht der von der Gesellschaft Verstoßene, sondern ihr Gesandter. Die einsame Weite, die der Echoklang evoziert, ist deshalb nicht allein auf die Weite des Ozeans, auf die der Surfer sich hinauswagt, zu reduzieren. Ich hatte schon auf das Echo bei Duane Eddy hingewiesen: Hier evoziert das Echo die Ödnis der Prärie; ein anderes Beispiel ist JOE MEEKs Ode auf den Nachrichtensatelliten Telstar7, in der die Leere des Weltalls ausgedrückt wird:
Diese Identifikation des Echosounds mit dem Pioniergedanken macht derartige Stücke dann auch beinahe austauschbar. Die eben angespielten Stücke etwa wurden beide von den LIVELY ONES als Surfstücke gecovert, wobei aus DUANE EDDYs Forty Miles of Bad Road dann Forty Miles of Bad Surf wurde. Und daß die Prärie, das Weltall und der Ozean in der amerikanischen Mythologie zusammengehören, wurde nirgendwo so eindrücklich zusammengefaßt wie in der Schlußszene von JOHN CARPENTERs Science-Fiction-Film Dark Star, in dem, nachdem die intelligente Bombe aus theologischen Gründen das Raumschiff gesprengt hat, einer der Astronaten sich ein Wrackteil greift, um darauf zu Country-Musik-Klängen zum nächsten Planeten zu surfen.
Bevor wir uns weiteren musikalischen Elementen zuwenden, müssen wir uns kurz die Frage stellen, warum die Integration von Individuum und Gesellschaft, die die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts als geleistet vorgaukelte, nicht gelang und auch nicht gelingen konnte. Adorno und Horkheimer, denen ich hier folgen will, sehen die Ursache dafür im unversöhnten Verhältnis zur Natur. Der bürgerliche Charakter entwickelte sich in Auseinandersetzung mit Natur, und zwar in immer gelungenerer Naturbeherrschung. Natur wurde in der Menschheitsgeschichte lange und durchaus auch zurecht als Bedrohung empfunden. Daraus entwickelte sich eine Form des Subjekts, das sich gegen Natur, sowohl die äußere wie auch die innere, verhärtete. Diese Härte und Kälte des bürgerlichen Subjekts verhindert jedoch die gelungene Versöhnung der Menschen sowohl mit der Natur als auch untereinander. Der Faschismus, etwas sehr vereinfacht gesagt, ist für Horkheimer und Adorno die ultima ratio eines unversöhnten Verhältnisses zur Natur.
Die naive Aufbruchsstimmung, wie sie sich im amerikanischen Pioniergeist manifestiert, scheint nun selbst wieder nur eine Variante naturbeherrschender Ideologie zu sein. Und in der Tat, was gibt es Härteres, Kälteres, Männlicheres als den Westerner, der aufbricht, die Prärien zu erobern und die amerikanischen Ureinwohner abzuschlachten.
Doch der Frontier-Gedanke, wie er im Echoklang der Surfmusik aufscheint, und den wir als Gemeinsamkeit von Western- und Surfmusik herausgearbeitet haben, wird in der Surfmusik einer grundlegenden Veränderung unterzogen. Denn das Verhältnis zur Natur, wie es sich in Surfmusik darstellt, ist grundverschieden von dem harten, männlichen Herrschaftsverhältnis, das den Frontier-Gedanken prägt.
Hören wir uns dazu ein weiteres wichtiges musikalisches Element von Surfmusik an, das Glissando, das wesentliches Moment vieler klassischer und weniger klassischer Surfstücke ist:
Auch hier läßt sich eine Differenz zum europäischen Musikverständnis aufmachen. Die Geschichte der westlichen Musik ist unter anderem auch die Geschichte der Domestizierung des Tonraumes, die schließlich im 18. Jahrhundert in der Entwicklung des sogenannten wohl-temperierten Tonsystems gipfelt. Dieses heute quasi universell gültige Tonsystem beruht darauf, daß die Oktave sauber in 12 gleiche Halbtöne geteilt wird. Gegen diese bürokratische Aufteilung begehrt das Glissando als Erinnerung an den Klang des durch keine Tonalität eingeschränkten Geheuls auf. Im Glissando kommt die Natur zu ihrem Recht und setzt sich gegen die Zähmung durch das tonale System zur Wehr.
Die Ordnung des tonalen Systems, das natürlich in der Surfmusik weitergehend seine Gültigkeit bewahrt, wird also gezielt mit Naturelementen durchwirkt, seien diese nun Glissando oder auch das Echo. Derart geht Natur nicht als Unterworfene, sondern als Verbündete in die Musik ein. Wenn wir uns jetzt das wohl schönste Surfstück aller Zeiten anhören, Pipeline von den CHANTAYS, dann wird diese Versöhnung mit Natur ohrenfällt. Nebenbei: Pipeline war das Stück, mit dem das Glissando in die Surfmusik eingeführt wurde.
Wo Natur nicht ausgegrenzt, sondern aktiv eingebunden wird, ist für das klassische bürgerliche Individuum, das seine Individualität gerade in aggressiver Abgrenzung von Natur behauptet, kein Platz mehr. Dies führt uns zu zum nächsten Stilelement von Surf, dem Double-picking. Dieser Doppelschlag mit dem Plektrum, der für den Surfsound seit DICK DALE so charakteristisch geworden ist, widerspricht im Grunde vollkommen der üblichen Art und Weise, wie die Gitarre in der Rock- und Popmusik eingesetzt wird. Eigentlich verdankt sich der Siegeszug der elektrischen Gitarre vor allem deren expressiven Qualitäten. Das Gitarrensolo übertrifft an Ausdruckmöglichkeiten noch die menschliche Stimme, setzt dort ein, wo auch der Sänger nicht mehr mithalten kann:
Sentimentalität ist das Komplement zur Härte des bürgerlichen Charakters, das nirgendwo augenfälliger wird als im KZ-Kommandanten, der bittere Tränen über seinen gestorbenen Schäferhund vergießt. Das Double-picking verunmöglicht jeglichen seelenvollen Kitsch, sondern zwingt dem Gitarrenspiel, ob das Gitarrist nun will oder nicht, eine unsentimentale Spielweise auf, die eher artistisch als künstlerisch zu nennen ist.
Damit wird verhindert, daß die von mir behauptete Versöhnung mit Natur, wie sie in der Surfmusik aufscheint, regressiv wird. Surfmusik ist meilenweit von den Verschmelzungsphantasien der Hippies entfernt. Die in Auseinandersetzung mit Natur gewonnen Fähigkeiten Ausdauer, Geistesgegewart und Konzentration werden nicht wieder aufgegeben. Das Double-picking erhebt sie vielmehr zur notwendigen Bedingung von Surfmusik. Doch diese im Prozeß der Naturbeherrschung gewonnen Fähigkeiten lösen sich in der Surfmusik von eben diesen Ursprüngen. Im double-picking verlieren sie ihren naturbeherrschenden Charakter. Vielmehr schmiegt sich der Surfgitarrist an die Melodie an, läßt sich von ihr tragen, ohne jedoch einen Augenblick in seiner Konzentration nachzulassen.
Hier ist in der Tat eine Analogie zum Surfen zu finden, die diesen Sport von so ziemlich allen anderen Sportarten unterscheidet: Während sonst praktisch alle Sportarten auf Kampf ausgerichtet sind, sei es mit dem Gegner, sei es mit der Natur, ist Surfen das glatte Gegenteil. Aktives Element ist hier nicht der Surfer, sondern die Natur, die Welle, die den Surfer trägt. Nur indem er sich der Bewegung der Wellen anvertraut, ihnen sich anschmiegt, ohne jemals in seiner Konzentration nachzulassen, gelingt es ihm, keinen Sand kauen zu müssen.
Soweit wir bislang die Idee von Surfmusik begriffen haben, scheint in ihr eine Versöhnung von Individuum und Natur auf, die exemplarischen Charakter hat. Dies läßt sich direkt auf die gesellschaftliche Situation rückbeziehen, in der die Surfmusik entstand. Es war dies das „goldene Zeitalter“ des Kapitalismus, wie es Eric Hobsbawm genannt hat. Die Mittelklasse-Teenager, die den überwiegenden Teil der Surf- und Surfmusik-Szene stellten, konnten in eine blühende Zukunft blicken.
Symbol dieser gesellschaftlichen Aufbruchsphase war der Ende 1960 gewählte Präsident John F. Kennedy, der wie kein anderer für eine Integration der Jugend in das neue Massenkonsummodell des Nachkriegskapitalismus stand. Vorbei waren die Zeiten, als in den 50er Jahren die Zeichen noch durchgängig auf Sturm gestanden hatten. Damals war die amerikanische Öffentlichkeit permanent am Rand der Hysterie entlanggetaumelt. Jeden Augenblick war mit dem Ausbruch eines atomaren 3. Weltkrieges gerechnet worden. Und dieser außenpolitischen Paranoia entsprach innenpolitisch die völlig lächerliche Furcht vor einer groß angelegten kommunistischen Verschwörung, die die amerikanische Werte untergrabe. Flankiert war dies dann noch von einer rebellischen Jugend geworden, als deren Symbolfiguren James Dean und der frühe Elvis angesehen werden können. Doch die Aggressivität des „rebels without a cause“ James Dean und die aufreizende Sexualität eines Elvis schienen Anfang der 60er Jahre wie Erinnerungen aus vergangenen und überwundenen Zeiten. Mit dem jugendlich-dynamischen Image John F. Kennedys verband sich die Hoffnung eines mehr oder minder konfliktfreien gesellschaftlichen Aufbruchs, den selbst die Kubakrise 1962 nicht erschüttern konnte. Im Gegenteil: Obwohl die Welt durch Kennedys Ultimatum wahrscheinlich nie näher am Rande des atomaren Infernos stand, schien das schnelle Einlenken der Sowjets die Bestätigung dafür, daß alles im richtigen Gleis war.
Tatsächlich aber war auch Anfang der 6oer Jahre überhaupt nichts in Ordnung, wie der weitere Verlauf der Geschichte zeigen sollte, es war nur ein kurzes Innehalten. Ende 1963 wurde Kennedy ermordet: Ein symbolisches Ereignis, das im öffentlichen Bewußtsein die zukünftigen Konflikte einleitete. In der Folge verstrickten sich die USA immer tiefer in den sinnlosen Vietnam-Krieg, die Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen machte den permanenten Rassismus der US-amerikanischen Gesellschaft sichtbar wie nie zuvor, und an den Universitäten rumorte es bedrohlich. Die Anfang der 60er Jahre kurzfristig zugeschütteten Gräben sollten bald wieder aufgerissen werden.
Doch in der Hochzeit der Surfmusik zwischen 1961 und 1963 schien dies alles undenkbar. Surfmusik repräsentierte eine konfliktfreie Utopie, die Möglichkeit einer Versöhnung von Individuum und Gesellschaft, von Gesellschaft und Natur, und zwar eine Versöhnung, die in der Tat, im Gegensatz zu späteren Hippie-Utopien, nichts Regressives an sich hatte.
Doch angesichts unseres Wissens, daß diese Utopie nicht von Dauer war, offenbart sich, wenn wir genau hinhören, eine merkwürdige Leerstelle in der Surfmusik, die zu denken gibt.
Diese Leerstelle wird durch die Abwesenheit von Fuzz (oder eingedeutscht: Bratz) in der Surfmusik markiert. Zwar spielten die Surfbands der frühen 60er Jahre mit einer für die Zeit ungeheuerlichen Lautstärke, doch verzerrt oder übersteuert wurde der Gitarrensound in der Regel höchstens unabsichtlich. Bratz ist also ein musikalisches Element, das gerade dadurch, daß es nicht verwendet wird, den Sound der Surfmusik auszeichnet.
Die Behauptung dieses Mangel ist keineswegs an den Haaren herbeigezogen, wie es zum Beispiel die Behauptung wäre, daß in der Surfmusik kein Glockenspiel verwendet wird. Denn es gibt einige ausgezeichnete Gründe, warum wir eigentlich Bratz finden müßten. Zum einen ist dies die „Naturalisierung“ des Sounds, die wir als Charakteristikum der ersten zwei diskutierten Klangelemente bestimmt haben. Mehr noch als die Klangelemente des Echos und des Glissandos verwandelt die Verzerrung der Gitarren den eigentlichen Klang in Naturklang; wenn es also allein um Naturalisierung ginge, dann wäre Bratz eine ausgezeichnete Wahl.
Das zweite Argument hat einen Namen, beziehungsweise deren zwei: LINK WRAY und DAVIE ALLAN. Schon in den 50er Jahren hatte LINK WRAY mit bedrohlichen Gitarreninstumentals, die sich durch einen gewollten Primitivismus und eben einen bratzigen Gitarrensound auszeichneten, Musikgeschichte geschrieben. Sein bereits erwähnter Millionenhit Rumble war der perfekte Soundtrack zu einer Halbstarken-Schlägerei, was in den paranoiden 50er Jahren dazu führte, daß sich eine Reihe von Radiosendern weigerten, das Stück zu spielen; und das, obwohl es sich um ein reines Instrumentalstück handelte. Als musikalisches Modell stand der Batz-Sound also Anfang der 60er Jahre durchaus als musikalische Möglichkeit zur Verfügung. Und wenn die erste Generation von Surfgitarristen nach ihren Einflüssen gefragt werden, dann taucht mit schöner Regelmäßigkeit der Name LINK WRAY auch auf. Doch im Gegensatz etwa zu DUANE EDDY oder den FIREBALLS schlägt sich dieser Einfluß weder im Repertoire noch im Sound der frühen Surfmusik nieder. Das einzige mir bekannte zeitgenössische Cover eines LINK WRAY-Stückes von einer bedeutenden Surfband ist Rawhide von den LIVELY ONES, das aber die Sounddifferenz nur umso ohrenfälliger macht.
Repräsentierte LINK WRAY den Bratz vor dem goldenen Zeitalter der Surfmusik, so DAVIE ALLAN den nach deren Niedergang. 1964, als Surfmusik schon am Absterben war, gründete DAVIE ALLAN die ARROWS, die sich zunächst noch einem relativ konventionellen Surfsound verschrieben (ein Mitglied der frühen ARROWS war übrigens der schon erwähnte PAUL JOHNSON von den BELAIRS). Doch schon die frühen Singles zeichnen sich durch eine gewisse Aggressivität aus; ein früher Track knüpft schon mit dem Titel The Rebel (Without A Cause) an JAMES DEAN und die 50er Jahre an. DAVIE ALLANS eigentliche Stunde des Ruhms sollte dann 1966 mit dem Stück BLUE’S THEME kommen, als die Surfmusik längst von der Bildfläche verschwunden war:
Bei diesem Stück, das zumindest in Kalifornien ein Hit war, handelt es sich um die Titelmelodie des Filmes The Wild Angels von ROGER CORMAN. Darin spielt PETER FONDA den Anführer einer Gruppe von Hell’s Angels, die auf alle gesellschaftlichen Konventionen spucken. Höhepunkt des Filmes ist die Beerdigung eines von den Bullen erschossenen Bandenmitglieds, bei der der Gottesdienst völlig außer Kontrolle gerät und die Kirche während einer wilden Party komplett zerlegt wird. Billigfilmer CORMAN bewies damit wieder einmal sein untrügliches Gespür für den Zeitgeist und DAVIE ALLANS bratzgetränkter Soundtrack paßte dazu wie die Faust in die Magengrube.
Der Erfolg von DAVIE ALLAN und den ARROWS zeigt deutlich, daß der Niedergang der instrumentalen Gitarrenmusik ab 1964 keineswegs zwangsläufig war; allerdings hätten sich die Surfbands in eine Richtung entwickeln müssen, die ihrem musikalischen Horizont nicht wirklich entsprach. Die Aggressivität, für die der Bratzsound steht, der Wille, den Konflikt zu suchen und in die Opposition zu gehen, widersprach letztendlich dem utopisch-versöhnenden Gestus der Surfmusik.
Dies sollte sich dann allerdings in den 80er Jahren angesichts des Surfmusik-Revivals ändern.
Es dürfte inzwischen klargeworden sein, daß die gesellschaftlichen Bedingungen, die Surfmusik ermöglichten, ab Mitte der 60er Jahre so nicht mehr gegeben waren. Die Konflikte zwischen Jugend und Gesellschaft, die Anfang der 60er Jahre für kurze Zeit unter dem Teppich gehalten wurden, brachen mit neuer Vehemenz auf und machten es unmöglich, daß Surfmusik auf die Art und Weise weiterbestehen konnte, wie sie entstanden war. Zwischen 1965 und 1980 war Surfmusik praktisch tot. Doch just Anfang der 80er Jahre hob sich auf einmal wieder knarrend der Sargdeckel. Daß AGENT ORANGE 1981 drei Surfklassiker auf ihr Debut-Album Living in Darkness packten, war schon zu Beginn des Vortrags erwähnt worden. Zur gleichen Zeit gründete der schon mehrfach erwähnte PAUL JOHNSON, die Packards; JON AND THE NIGHTRIDERS betraten die Bühne, ROBERT DALLEY, heute einer der bedeutendsten Historiker der Surfmusikgeschichte, gründete die SURF RAIDERS, eine ganze Reihe weiterer Bands tauchten auf und verschwanden wieder.
Das sporadische Aufflackern wurde dann in den 90er Jahren zu einem Steppenbrand, als QUENTIN TARANTINO eine Reihe von Surfstücken für den Soundtrack von Pulp Fiction verwandte. Und von da an schossen die Surfbands weltweit wie die Pilze aus dem Boden und ein Ende des Booms ist nicht abzusehen.
Die Frage ist jedoch, warum? Die simple Antwort, daß es einfach geile Musik ist, reicht bei weitem nicht aus, um das Phänomen zu erklären. Wenn es stimmt, was ich lang und breit ausgeführt habe, daß Surfmusik einen utopischen Horizont repräsentiert, der an die historischen Bedingungen der frühen 60er Jahre gekoppelt ist, dann ist die Wiederauferstehung zu Beginn der 80er Jahre mehr als erklärungsbedürftig. Denn diese Jahre können als das glatte Gegenteil der frühen 60er angesehen werden: Von Aufbruch und Optimismus kann zu dieser Zeit nun wahrlich nicht die Rede sein; es ist die Zeit von Ronald Reagan in den USA, Maggie Thatcher in Großbritannien und Helmut Kohl in Deutschland. Die progressiven Bewegungen der 60er und 70er Jahre hatten sich totgelaufen, das atomare Wettrüsten erreichte seinen Höhepunkt und die Zukunft sah so wenig rosig aus, wie sie es dann auch tatsächlich werden sollte.
Warum also wird gerade in dieser Zeit, in die der unbeschwerte Optimismus der Surfmusik überhaupt nicht paßt, diese wieder neu ententdeckt? Versuchen wir uns der Antwort zu nähern, indem wir die Musik selbst befragen. Hat sie sich, gegenüber der ursprünglichen, ersten Welle der Surfmusik verändert? In der Tat.
Alle Veränderungen auf einen Nenner zu bringen, fällt allerdings schwer. Der Surfmusik-Historiker JOHN BLAIR schreibt:
»Die ‚Wiedererwecker‘ der Surfmusik sind ein interessanter Haufen. Einige sind erfolgreich, andere nicht; manche sind unglaublich kreativ, andere halten strikt am klassischen Sound und Stil fest, manche nähern sich dem Genre mit einen flexiblen Avantgarde-Ansatz, während wieder andere einen zurückhaltenden Minimalismus praktizieren. Im Endergebnis führt das dazu, daß Surf-Revival-Aufnahmen in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten stilistisch und in Fragen der Originalität über eine unglaubliche Variationsbreite verfügen.«
Trotzdem will ich mich an einige außergewöhnliche musikalische Elemente halten, die zwar nicht für alle neuen Surfbands typisch sind, die aber recht häufig auftauchen und in einem merkwürdigen Kontrast zur ursprünglichen Surfmusik stehen.
Völlig neu hinzugekommen ist die Faszination für B-Movie-Trash. Von Horror- und Science-Fiction Filmen über Spaghetti-Western bis hin zu Softpornos wird alles geplündert, was irgendwie trashig und geschmacklos ist.
Wenn sich JOHN BLAIR darüber erstaunt, daß TARANTINOS Pulp Fiction »absolut nichts mit Surfen oder der Surfkultur zu tun hatte«, daß aber »die Musik sehr gut funktionierte, um die Stimmung und die Atmosphäre des Filmes zu unterstützen«, dann ist diese Verwunderung völlig unbegründet. Ein artifizieller Trash-Film wie Pulp Fiction paßt ausgezeichnet zu einer veränderten Idee von Surfmusik, die eben nicht mehr unmittelbar die etwas naive Unschuld der frühen 60er repräsentiert, sondern das Kunststück fertigbringt, sowohl diese Unschuld zu bewahren wie auch gleichzeitig mit den Symbolen von Sex, Gewalt und Schrecken zu spielen.
Dies zeigt, daß sich die ursprüngliche Idee von Surfmusik im Surfmusik-Revival mit einer anderen Vorstellung amerikanischer Jugendkultur vermischt, die im ursprünglichen Horizont der Surfmusik überhaupt nicht auftauchte. Es ist dies die Welt der billig produzierten Filme für ein jugendliches Publikum, der Autokinos mit ihren ausgedehnten Knutschereien auf dem Rücksitz, kurz: von Elementen der 50er Jahre, die im Surf der frühen 60er nichts zu suchen hatten.
Dazu paßt es, daß nun auf einmal LINK WRAY eine wichtige Rolle spielt. Ich hatte schon erwähnt, daß LINK WRAY für die Surfmusiker der frühen 60er Jahre zwar ein Idol war, daß aber seine Musik keinen nachweislichen Einfluß auf den musikalischen Stil oder das Repertoire in der Anfangsphase der Surfmusik hatte. In diesem Zusammenhang hatte ich außerdem darauf hingewiesen, daß die Musik von LINK WRAY tief im Rock’n’Roll der 50er Jahre verwurzelt ist, bei dem es viel mehr um jugendliche Aggression ging als in der Surfmusik. Das paßte Anfang der 60er Jahre nicht in das Selbstbild der Surfmusik. Heute jedoch sind LINK WRAYS Stücke auf einmal, wie selbstverständlich, in den Kanon der Klassiker aufgenommen. Vorreiter in dieser Hinsicht war — erstaunlich genug — PAUL JOHNSON, der in das Live-Set der PACKARDS Anfang der 80er Jahre ein LINK-WRAY Medley aufnahm, das Wrays bekannteste Stücke Rumble, Jack The Ripper und Rawhide kombinierte. Als schließlich 2003 ein LINK WRAY Tribute Album erschien (Guitar Ace, MuSick Recordings, MuSick 20), wunderte sich längst niemand mehr, daß unter denen, die hier dem Linkster die Reverenz erwiesen, große Namen der Surfmusik wie PHANTOM FRANK von den TREBLE SPANKERS, POLLO DEL MAR, THE BAMBI MOLESTERS oder DAVE WRONSKI von SLACKTONE zu finden waren. LINK WRAYS aggressiver instrumentaler Rock’n’Roll kann sich inzwischen, ganz im Gegensatz zu den frühen 60er Jahren, auf einmal ohne weitere Probleme in die musikalische Logik der neueren Surfmusik einfügen.
Wenn man diese Veränderungen zusammen betrachtet, fällt auf, daß sich offensichtlich die Idee von Surfmusik erweitert hat. Sie bezieht sich weniger auf das Selbstbild der Teenager aus den frühen 60er Jahren, die sich für Surfmusik begeistern konnten. Der Referenzpunkt ist vielmehr eine deutlich allgemeiner gefaßte Jugendkultur der 50er/60er Jahre, die an entscheidenden Punkten über das hinausgeht, was Surfmusik ursprünglich ausdrücken wollte.
Diese Erweiterung ist in gewisser Hinsicht aber auch eine Beschränkung. Indem sie die rebellischen Elemente der 50er Jahre aufnimmt, widersetzt sie sich dem Universalitätsanspruch der ursprünglichen Surfmusik. Denn obwohl die ursprüngliche Surfmusikszene ganz wesentlich von Teenagern geprägt wurde, so spielte, wie bereits erwähnt, dieses ihr „Jugendlichsein“ keine programmatische Rolle. Es war selbstverständlich und hatte keine grenzziehende Funktion. Ganz im Gegensatz dazu hatte der Rock’n’Roll der 50er Jahre zwischen den Jugendlichen auf der einen und einer feindlichen Erwachsenenwelt auf der anderen Seite klare Grenzen gezogen. Indem nun die neuere Surfmusik Teilaspekte der 50er Jahre-Jugendkultur aufnimmt, übernimmt sie auch diese Grenzziehung.
Damit können wir die Frage beantworten, warum die 80er Jahre ein ausgezeichneter Zeitpunkt waren, zu dem eine derart umkodierte Surfmusik aufkommen konnte. Die Antwort scheint zunächst paradox: Diese nun „jugendlich“ kodierte Surfmusik kam deshalb auf, weil es faktisch ab den 80er Jahren mit der Jugend zu Ende ging. Eine derartige Behauptung ist natürlich erklärungsbedürftig: So seltsam es vielleicht erscheinen mag, aber „Jugend“ ist keine biologische Tatsache, sondern ein soziales Konstrukt. Die ungeheure Prosperität der Nachkriegsjahre erlaubte es jungen Menschen bis weit in die 70er Jahre hinein, zwischen die Pubertät und den sogenannten „Ernst des Lebens“ eine Phase einzuschieben, die es in historisch zuvor nie gekanntem Maße erlaubte, zu experimentieren, Überkommenes in Frage zu stellen und sich selbst neu zu erfinden. Die verschiedenen Jugendkulturen seit Mitte der 50er bis Ende der 70er Jahre, von Rock’n’Roll bis Punk, sind Ausdruck dieses temporären gesellschaftlichen Freiraums, der sich während dieses „goldenen Zeitalters“ aufgetan hatte.
Doch ab Ende der 70er Jahre wurde dieser Freiraum, der „Jugend“ als soziale Erfindung ermöglicht, zusehends beschnitten. Ich will nicht mit Details langweilen, sondern nur an einem Beispiel klarmachen wie sehr sich die Möglichkeiten verengt haben: Ganz wesentlich für die Existenz einer solchen „Jugend“ war ein offenes Bildungssystem, das es jungen Leuten mit Hilfe von Stipendien erlaubte, unabhängig vom Elternhaus einige Jahre lang das relativ offene, experimentelle Leben eines „Jugendlichen“ zu führen. Gerade dieser Freiraum wurde massiv beschnitten. In der BRD etwa wurde in den 80er Jahren das seit Ende der 60er Jahre vergebene Bafög zunächst gekürzt, dann als Darlehen statt als Stipendium vergeben und heute sind wir so weit, daß sogar Studiengebühren gezahlt werden müssen.
Gegen die gesellschaftliche Beschneidung dieses Freiraums begehrt die neuere Surfmusik auf, indem sie die Ästhetik einer imaginären „Jugend“ erfindet. Entscheidend ist hier der imaginäre Charakter dieser Jugend. Seit den 50er Jahren gab es die unterschiedlichsten Jugendkulturen, die sich mit Hilfe von Dresscodes, spezieller Sprache und eben auch Musik selbst definierten. Aber es handelte sich dabei eigentlich immer um den unmittelbaren Ausdruck ihres eigenen Selbstverständnisses. Auch die ursprüngliche Surfmusik gehorchte diesem Schema. Die Surfmusik des Rivivals hingegen bricht mit dieser Unmittelbarkeit des Ausdrucks; hier handelt es sich um eine reflektierte Form, um ein Spiel, das sich seines imaginären Charakters selbst bewußt ist.
Ich möchte dies durch ein Zitat aus den Linernotes einer 2004 erschienen CD verdeutlichen. Dort heißt es:
»Seit kaum ein paar Jahrzehnten ist die kalifornische Strandszene nun der Maßstab aller instrumentalen Teenagermusik. Ihre Protagonisten wurden zu Ikonen in aller Welt. Und sie waren es, die binnen kurzer Zeit ungezählte Millionen auf ihre Konten schaufelten und der Paparazzi liebstes Jagdwild waren. Doch der Lack ist ab! Aus dem Schwarzwald kommt nun endlich die potentielle Wachablösung, die sich mit dem verheißungsvollen Namen ‚Leopold Kraus Wellenkapelle‘ kleidet.«
So weit die selbsternannten „Kings of Black Forest Surf“ auf ihrer Scheibe 15 Black Forest Surf Orginals. Ein relativ kleiner Kreis von Eingeweihten spielt mit feinerer oder gröberer Ironie das Spiel einer imaginären Jugendbewegung. Tatsächlich würde ich den typischen Altersdurchschnitt auf einem Surfmusikkonzert vorsichtig auf mindestens 30 Jahre schätzen, also ungefähr doppelt so alt wie in den 60er Jahren.
Und es ist diese spielerische Qualität, die den Bezug auf drittklassige Horrorfilme, Spaghettiwestern oder eben auch Pulp Fiction erklärt: Der Trash-Charakter dieser Filme grenzt sie einerseits ab von ernsthaften, verantwortlichen, kurz: erwachsenen Kunstprodukten; andererseits distanzieren sie sich durch das Übermaß von Gewalt, Sex und Terror von schönfärberischem Eskapismus. Und sie sind Kunst-Produkte, die ihren rein imaginären Charakter von vornherein einbekennen, sich stolz als bloßen Schein offenbaren. Dieser offensichtlich scheinhafte Charakter, der aber ohne jede Sentimentalität ist, stellt die direkte Verbindung her zur Surfmusik.
Und indem die Surfmusik ihren Schein-Charakter stolz präsentiert, ihr bloßes „Als-ob“ schamlos einbekennt, schließt sie sich in einer zusätzlichen ironischen Wendung an die große bürgerliche Ästhetik des 19. Jahrhunderts an; deren Schein-Charakter hatte gerade die Kunst des 20. Jahrhundert vehement bekämpft, inklusive großer Teile der Rockmusik, die hartnäckig an Kriterien wie Authentizität festhalten. Dagegen behauptet die heutige Surfmusik, daß Kunst nichts mit Leben, sondern mit Schein zu tun hat; und da sie gute Kunst ist, hält dieser Schein dem Leben den Spiegel eines Anderen und Besseren vor. So interpretiert entwirft Surfmusik die Erinnerung an eine Jugend, in der nicht schon ab dem Kindergarten auf den Universitätsabschluß hingearbeitet wird. Und indem sie aber zugleich die Scheinhaftigkeit dieses Entwurfs offen darstellt, ist sie zugleich eine Aufforderung, die Gesellschaft so zu verändern, daß das, was „Jugend“ einmal sein wollte, eine Möglichkeit für alle wird.